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„Es führt kein Weg an einer Evakuierung vorbei.“

17. März 2020 - 21:05 Uhr - 5 Ergänzungen

Im Aufnahmelager Moria auf der zu Griechenland gehörenden Insel Lesbos hat es am Vortag gebrannt. Dabei ist mindestens ein Mensch getötet worden. Wir haben mit Aktivist:innen der URA Dresden gesprochen, die sich gerade vor Ort befinden, um einen Eindruck über die Situation in und um das Lager, die Zusammenarbeit mit der lokalen Bevölkerung und notwendige nächste politische Konsequenzen zu bekommen.

Ihr seid gerade auf Lesbos:Seit wann seid ihr dort und was sind die Gründe?

Wir sind eine kleine Delegation von Antifaschist:innen. Uns haben die letzten Katastrophen an der EU-Außengrenze zur Türkei nicht kalt gelassen. Die Erpressungsversuche Erdoğans und die Abschottungspolitik der EU entmenschlichen Schutzsuchende und machen sie zum Spielball einer Politik, welche nur noch mehr Krieg, Chaos und weitere Fluchtbewegungen hervorrufen wird.

Insbesondere zu Lesbos war die Berichterstattung über die letzten fünf Jahre eher dürftig. Rückblickend hat sich weder die Lage in Moria, noch auf den anderen Inseln grundlegend gebessert. Politisch fehlt der Wille – und das nicht nur bei der griechischen Regierung, sondern auch in den reichen Ländern Europas. Selbst der Beschluss von sieben EU-Staaten 1.600 Kinder aufzunehmen, hört sich an wie ein schlechter Witz und ist bisher nicht mehr als heiße Luft.

Nach den Angriffen durch lokale Faschist:innen und Teilen der Dorfbewohner:innen sind natürlich auch viele Journalist:innen wieder verschwunden. Corona macht die Informationslage noch prekärer, also sind wir genau zur richtigen Zeit am richtigen Ort.

Nicht zuletzt muss man auch betonen, dass wir einen Austausch mit lokalen antifaschistischen Strukturen vorantreiben wollen. Wie reagiert die lokale Bewegung in solchen Ausnahmesituationen. Uns ist ja eine ähnliche Situation in Deutschland auch bekannt. Wir haben die Ereignisse von Heidenau noch gut in Erinnerung.

Derzeit scheint die Corona-Krise alles zu überlagern. Die Situation im türkisch-griechischen Grenzgebiet ist kaum noch präsent. Wie ist die Situation vor Ort? 

Natürlich spielt Corona auch hier eine große Rolle. Auch wenn es bisher nur einen bestätigten Fall auf der Insel Lesbos gibt, ist es in Zeiten der Pandemieberichterstattung schwer, etwas über die aktuelle Situation im Lager aus Zeitungen und Timelines mitzubekommen. Aber das Camp und die Situation in Moria spielen zumindest lokal eine Rolle und ab und an schafft es auch noch ein Artikel in die deutschsprachige Medienlandschaft. Generell gibt es eine große Angst vor dem Corona-Ausbruch im Camp. Dabei ist eher die Gefahr, dass die Seuche von Außen in das Lager eingeschleppt wird und weniger, dass die Menschen die dort sind, diese Krankheit mitgebracht haben, wie es von Rassist:innen gern behauptet wird.

Es gab ja bereits in der letzten Woche einen Appell von Ärzte ohne Grenzen  endlich etwas zu unternehmen, um die katastrophalen hygienischen und medizinischen Verhältnisse zu verbessern. Das Abwasser zum Beispiel wird im so genannten Dschungel provisorisch über kleine handgegrabene Kanäle quer durch das ganze Camp abgeleitet. 

Weiterhin gibt es keine Isolationsmöglichkeiten, keine spezielle Behandlung von Hochrisikopatient:innen und auch keine Testmöglichkeiten. Auf schätzungsweise 20.000 bis 28.000 Lagerinsass:inen kommen nur eine handvoll Ärzt:innen. Vieles an Grundversorgung wird derzeit durch Freiwillige und NGOs gewährleistet. 

Wobei Ärzte ohne Grenzen sich zum Beispiel aus politischen Gründen aus dem Inneren des Camps zurückgezogen hat und nun außerhalb des Lagers ihre Versorgung bereitstellt. SOS-Kinderdorf hat aufgrund der Drangsalierungen durch griechischen Behörden seine Arbeit inzwischen eingestellt. Auch die Grasroots-Strukturen, wie die No Border Kitchen, fragen sich, was nun zu tun sei. Die Situation kann sich von Tag zu Tag ändern.

Gestern erreichten uns die Meldungen von einem Feuer im Lager Moria, bei dem auch nach aktuellen Informationen mindestens ein Kind gestorben sein soll. Vor welchen Aufgaben steht das Lager nach dem Brand?

Ja, es gab einen Großbrand und wir waren auch vor Ort. Zu dem Zeitpunkt war das Feuer dann endlich auch gelöscht. Die Cops haben versucht, die Zugänge zum inneren Bereich des Lagers abzuriegeln, es wurde von Verhaftungen von Journalist:innen berichtet und tatsächlich konnten wir im Innenbereich keine Journalist:innen sehen. Wir haben mit Bewohner:innen des Camps gesprochen. Sie sagten uns, dass die Lagerverwaltung und die Polizei viel zu spät reagiert und das Feuer wohl bis zu zwei Stunden gebrannt hätte. Es gibt mindestens ein totes Kind und Campbewohner:innen reden von einem weiteren. Wir wissen es jedoch nicht genau, da gestern kurzzeitig auch die Rede von fünf Toten war.

Wenn ihr fragt, was nun zu tun sei: Nun, man könnte Rettungswege bauen und Wasseranschlüsse legen und die Wände schön rosarot streichen, aber das bringt alles nichts. Allein die infrastruktuellen Aufgaben vor dem das Lager stehen würde, sind schlichtweg nicht zu bewältigen, zumal es die gleichen Probleme wie vor dem Brand sind. 

Wir glauben eure Frage muss man auf einer politischen Ebene beantworten: Die Existenz dieses Lagers ist menschenverachtend und es ist illusorisch, dass für 23.000 Leute auf so engem Raum und auf dieser Insel etwas geändert werden kann. Die Idee der Lager an sich ist menschenverachtend und immer mit der Politik der Aussortierung und Abschottung verknüpft. 

Der Alltag für die Menschen dort ist die Hölle, gekennzeichnet von Elend, Mangel und massiver Gewalt durch die Polizei und in der Nacht oft auch untereinander. Wir sagen, das Lager muss aufgelöst und die Leute in Europa verteilt werden, die reichen EU-Staaten sollen die Menschen aufnehmen. In unseren Augen führt kein Weg an einer vollständigen Evakuierung vorbei.

Immer wieder erreichen uns auch Informationen von Übergriffen durch Nazis auf Geflüchtete, deren Einrichtungen, Journalist:innen und NGOs. Wie stellt sich für Euch die Situation vor Ort dar?

Die Situation ist sehr schwer einschätzbar, da die Informationslage schwierig ist. Aktivist:innen vor Ort haben begonnen eine Chronologie von Übergriffen zu erstellen, allerdings bleiben viele Angriffe auf Geflüchtete oft unbemerkt.

Wir wissen, dass es seit Oktober 2019 gehäuft Aktionen von organisierten rechten Gruppen gibt. Sehr regelmäßig gibt es Straßenblockaden und Patroullien. Damit wurde mindestens einmal der Nahrungstransport ins Camp abgeriegelt. Und oft wird damit versucht, Journalist:innen und NGO-Mitarbeiter:innen davon abzuhalten, ins Lager zu kommen. 

Wir haben aber auch von physischen Angriffen und Sachbeschädigungen durch Faschist:innen gehört. So ist es sehr wahrscheinlich, dass der Brand des nichtstaatlichen Schul- und Versorgungszentrums „One Happy Family“ von diesen Leuten gelegt wurde. Zu Beobachten ist außerdem, dass es kein Einschreiten der Sicherheitskräfte gibt. Vielmehr, so berichtet es sogar die Lokalpresse, beteiligen sie sich ebenso wie lokale Politiker:innen unmittelbar an den Aktionen gegen das Camp.

Auch auf Lesbos scheint der Rechtsruck mittlerweile das ans Tageslicht zu holen, was schon lange in der Gesellschaft an Einstellungen vorhanden war. Auch in den Parlamenten macht sich das bemerkbar: Mit den „Freien Bürgern“ (Eleftheri Politis) sitzt eine explizit rassistische Partei in den Dorfparlamamenten und hat zwölf Sitze in den Regionalparlamenten der südlichen Ägäis bekommen.

Subjektiv war es für uns bisher so, dass wir Anfeindungen zwar gespürt haben, gerade nach den beiden antifaschistischen Demonstrationen vom 14. März. Dennoch würden wir uns in manchen Teilen Sachsens unwohler fühlen, als hier in den Abendstunden durch die Straßen zu laufen.

Gibt es Möglichkeiten für antifaschistische Gegenaktivitäten?

Sicher, die gibt es immer und überall! Bisher hat hier zum Beispiel Recherchearbeit gut funktioniert. Gerade was angereiste Faschos aus dem Ausland betrifft, konnte diesen etwas entgegengesetzt werden, wie am Beispiel der deutschen IBler oder dem irischen Faschisten Grand Torino zu sehen war. Das führte dazu, dass sich diese Leute nun nicht mehr so leichtfertig in die Öffentlichkeit trauen und schreckt hoffentlich andere davon ab, hierher zu kommen. Deswegen ist das auch ein wichtiges Aufgabenfeld antifaschistischer Arbeit, die auch prima unterstützt werden kann, ohne hier zu sein.

Ansonsten gibt es natürlich auch hier die üblichen Aktivitäten wie Graffitis im Stadtbild und antifaschistische Demonstrationen. Ein Problem der lokalen Antifa-Bewegung kennen wir jedoch auch von zu Hause. Gerade in den ländlichen Gegenden, aber auch hier in der Inselhauptstadt, werden die meist jungen Aktivist:innen nicht als Locals betrachtet. Familiäre Bande spielt nachwievor eine sehr starke Rolle in der Provinz. Da geht es dann auch schnell gar nicht mehr um eine politische Haltung, sondern um persönliche Konflikte. Hinzu kommt, dass viele der Dorfbewohner bewaffnet sind und diese Waffen auch nutzen würden, wie bei den jüngsten Aufständen gegen die neu geplanten geschlossenen Lager beobachtet werden konnte.

Auch von geflüchteten Menschen haben wir gehört, dass sie sich gegenseitig schützen und das natürlich ein Thema bei ihnen ist. Selbst der Begriff Antifa ist vielen bekannt und durchaus positiv besetzt. Daher ist es schade, dass wir bisher keinen organisierten gemeinsamen Kampf von Refugees und Antifas beobachten konnten.

Generell wird es leider schwer für die lokale Antifaszene, den politischen Diskurs auf der Insel wieder umzukehren, da die Rechten mit ihren Blockaden und ihrer Anti-NGO Haltung gesellschaftlich anerkannte Aktionsformen gefunden haben und die Antifas jetzt eine Antwort darauf finden müssen, ohne in der Defensive stecken zu bleiben.

Wie stellt sich die Zusammenarbeit mit NGOs und den Bewohner:innen der Insel dar?

Einige unserer lokalen Kontakte arbeiten in den NGOs. Das Verhältnis ist generell gespalten. Es gibt Einwohner:innen die sagen, dass die NGO nichts an der Lage verbessern würden. Es klingt für uns nach dem Vorwurf der Elendsverwaltung. Natürlich sind viele Leute auf der Insel frustriert und fühlen sich allein gelassen. Man muss die ganze Situation ja auch immer vor dem Hintergrund eines jahrelangen deutsch-europäischen Spardiktates betrachten. Das ist aber alles keine Entschuldigung für rassistische Übergriffe. Und auch nicht dafür, NGO Mitarbeiter:innen zum Ziel von Gewalt zu erklären.

Auf der anderen Seite gibt es natürlich auch eine emanzipatorische Kritik an NGOs. Aber diese gestaltet sich sehr konstruktiv. Zum Einen gibt es interne Vernetzung von NGO-Arbeiter:innen, wo es beispielsweise um Arbeitsbedingungen innerhalb der NGO ging. Die Arbeitsverhältnisse können auch hart ausbeuterisch sein, befristete Arbeitsverträge, schlechtere Löhne für Griech:innen im Vergleich zu Zentraleuropäer:innen. Diese Vernetzung ist aufgrund der aktuelle Ereignisse etwas eingeschlafen. Aber die Leute sind nun auf anderen Ebenen, zum Beispiel bei der Organisierung von Demonstrationen, aktiv. Andererseits gibt es vor Ort auch zahlreiche Solidaritätsprojekte, die nicht zwangsläufig einen NGO-Charakter haben müssen. Dazwischen liegen dann aber auch oft Mischformen. Auf lange Sicht kommt man jedoch unserer Ansicht nach nicht umhin, gemeinsam zu kämpfen.

Bei alle den beschissenen Dingen, die die lokalen Leute hier durchmachen müssen, muss man jedoch sehr genau hinschauen, ob der Tourismus wirklich eingebrochen ist und ob es wirklich an den Geflüchteten liegt, dass dies so ist. Wir haben gestern dazu Zahlen bekommen, die wir uns erstmal anschauen müssen, wenn wir hier überhaupt mal eine ruhige Minute finden. 

Es gibt ja auch eine Art NGO-Business von dem viele Menschen auf der Insel profitieren. Taxis werden mehr genutzt, Hotelzimmer für NGOs vermietet, Shops machen bessere Umsätze oder haben ihr Sortiment hin zu einer billigeren Preisklasse umstrukturiert, um die Nachfrage der Geflüchteten zu decken. Wir müssen da noch viel mit Leuten reden, um wirklich fundierte Aussagen treffen zu können. Wichtig für uns ist es, die ganzen Aussagen zu entmystifizieren und an belastbare Fakten zu kommen.

Es ist nicht allen Aktivist:innen möglich, selbst praktische Unterstützungsleistung vor Ort zu tätigen. Was ist eurer Meinung nach eine sinnvolle Hilfe für die Menschen auf Lesbos, die wir auch von hier in Dresden aus leisten können?

Das sinnvollste ist, wenn Menschen sich in den reichen Ländern Europas organisieren würden und massiven Druck auf diese Staaten ausüben, endlich Schutzsuchende aus den Lagern aufzunehmen. Das wird nicht ganz einfach, denn darunter sind kaum Menschen, die nicht Traumata und gesundheitliche Schäden davongetragen haben. Aber jede Person die noch meint, dass die europäische Idee der Menschenrechte mehr als eine hohle Phrase ist, sollte jetzt entschlossen handeln. 

Corona macht es jetzt natürlich nicht einfacher, aber es kann eine Chance sein, auf die Dringlichkeit einer Evakuierung zu verweisen. Wichtig ist, dass sich nicht nur Szenelinke oder eine antirassistische Szene mobilisiert, sondern breite Teile der Gesellschaft. Die Menschen in diesem Lager halten unserer Meinung nach die Menschenwürde und elementare Menschen- und Grundrechte gegen Europa hoch. Wir sollten uns ein Beispiel daran nehmen. Denn neben den schrecklichen Dingen, die in einem solchen Lager passieren, immerhin ist es eine Zwangssituation in der die Menschen stecken, gibt es auch massive Solidarität, Offenheit und Freundlichkeit. Uns haben Leute aus dem Camp immer offen und freundlich empfangen und zum Beispiel geholfen, Polizeisperren zu umgehen, damit berichtet werden kann und wir Augenzeug:inen sein können.

Aber auch für die, die nur spenden wollen: Wir werden versuchen, in den nächsten Tagen unterstützenswerte Projekte zu finden. Aber nochmal: Die westliche Linke muss endlich wieder lernen zu kämpfen, breitere Bevölkerungsteile anzusprechen und dadurch Druck aufzubauen. Es gibt ja schon größere Bündnisse wie das Seebrücke-Bündnis oder #unteilbar. Da muss nun endlich etwas passieren. Wir glauben das bringt mehr als eine Soliparty im örtlichen AZ für ein Schulprojekt hier. Denn nur dieser Druck kann auch etwas an der politischen Situation ändern.

Man muss sich immer wieder vor Augen halten, dass Zustände wie in Moria auf europäischem Boden und nicht in einem Bürgerkriegsland stattfinden. Menschen, die daran nichts ändern wollen, machen sich an jedem Toten, an jedem Opfer einer Vergewaltigung und von Gewalt in diesem Lager mitschuldig. In Moria sind allein 8.000 Kinder und Jugendliche, deren Zukunft durch die aktuelle Politik systematisch zerstört wird.

Könnt ihr abschätzen, wie sich die nächsten Monate vor Ort entwickeln werden, welche Gefahren seht ihr? Gibt es eventuell auch Chancen, die sich aus der Situation entwickeln können?

Das ist eine schwierige Frage. Wir haben da noch zu wenig Einblick in die lokalen Gegebenheiten. Der Brand hat gezeigt, dass sich immer auch spontan etwas ändern oder zuspitzen kann. Wichtig ist, dass die lokalen antifaschistischen Strukturen Antworten auf Aktionen organisierter Nazis finden. Die Zeit eines Kräftegleichgewichtes scheint erstmal vorbei und so muss es auch pro-aktive Ansätze seiten der Antifaschist:innen geben. Allerdings wollen wir uns nicht zu weit aus dem Fenster lehnen und noch mehr mit unseren Leuten vor Ort sprechen, um die Gegebenheiten besser verstehen zu können.

Wir bedanken uns bei euch für das Interview und die Einblicke in die Situation vor Ort!


Veröffentlicht am 17. März 2020 um 21:05 Uhr von Redaktion in Antifa, Soziales

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