Nazis

Eine Sommernacht in Heidenau

27. August 2015 - 10:59 Uhr

Im Supermarkt gegenüber der geplanten Flüchtlingsunterkunft im sächsischen Heidenau stehen junge Männer in Jogginghosen und Sportschuhen an der Kasse. Es sind Kleingruppen, die sich einen Kasten Bier kaufen. Auf ihren T-Shirts steht „Refugees still not Welcome“, dazu eine Abbildung, wo eine Person mit einer Pistole auf das Bild einer flüchtenden Familie zielt. Draußen auf dem großen Parkplatz steht die Vätergeneration und Familien sitzen mit bestem Blick auf den alten Baumarkt, welcher in Zukunft als Asylunterkunft dienen soll. Der Versuch, die Sicht durch Bauzäune und Planen zu verhindern, wird durch die leichte Erhöhung des Supermarktes verhindert. Für den exklusiven Einblick haben einige sogar Campingstühle mitgebracht und picknicken.

Die offensichtlich organisierten Kleingruppen schwärmen immer wieder mit Transparenten auf denen rassistische Parolen stehen aus. Die Bettlacken tauchen in ganz Heidenau wieder auf, angebracht an Kreuzungen, Bäumen und Schildern. Es ist Freitagabend in Heidenau bei Dresden und parallel startet am wenige hundert Meter entfernten Bahnhof ein von der NPD angemeldeter Aufmarsch, welcher an diesem Tag auf bis zu 1.000 Menschen anwachsen wird. Der Aufmarsch kommt heute nicht in die Nähe der Unterkunft, sondern übernimmt die Aufgabe des verbalen Einheizens.

Zu diesem Zeitpunkt ist bis auf die offensichtlichen Nazis vor dem Supermarkt nicht eindeutig ersichtlich, ob es sich um Schaulustige oder „besorgte Bürger“ handelt, welche sich da direkt vor der Unterkunft versammeln. Klar scheint nur eines zu sein, sie haben kein Problem mit den Nazis um sie herum. Polizei ist kaum präsent, lediglich zwei besetzte Fahrzeuge bewachen die Einfahrt auf dem Parkplatz des ehemaligen Praktiker-Baumarktes. Die anderen Kollegen begleiten die NPD-Demonstration. So ist ein nahezu ungestörtes Agieren der sportlichen Kleingruppen möglich. Es ist offensichtlich, dass sie nicht wegen der Demonstration hier sind. Schon zu diesem Zeitpunkt wird klar, es ist viel zu wenig Polizei vor Ort. Auf dem Gehweg der Bundesstraße, welche Supermarkt und Asylunterkunft trennt, ist eine Baustelle. Anders als bei vielen anderen Demonstrationen wurden Schutt und Zäune von der Polizei nicht extra gesichert.

Immer mehr Teilnehmer des Naziaufmarsches lösen sich von der Demonstration und strömen zum Supermarktparkplatz, wo die besten Plätze schon frühzeitig besetzt wurden. Die Menge wächst schnell. So stehen nach Beendigung des Aufzugs etwa 800 Menschen vor der Unterkunft. Vereinzelt erschallen „Wir sind das Volk“ oder „Lügenpresse“-Rufe. Die Beamten aber werden zunehmend hektischer, sie empfehlen einer handvoll Antirassisten, welche auf dem Parkplatz direkt vor der Unterkunft eingetroffen sind, die Abreise, da sie heute heute nicht für ihre Sicherheit garantieren können. Die Polizei ist völlig unterbesetzt, gibt sogar eine Gruppenleiterin offen zu. Die Antirassisten melden dennoch eine Spontankundgebung an – auf eigene Gefahr.

Mit Sonnenuntergang wird die Stimmung aggressiver, beginnende Böllerwürfe werden von der Menge grölend gefeiert. Schließlich kommt es zum Durchbruch und eine Kleingruppe setzt sich auf die Bundesstraße. Durch das fehlende Eingreifen der Polizei wächst die Blockade an und immer mehr Schaulustige gesellen sich dazu. Die Menge beginnt nun vermehrt Parolen zu rufen und feiert den Durchbruch als ersten Erfolg. Nach Versuchen, die Blockade mit persönlichen Ansprachen durch Beamte zu räumen, zieht sich die Polizei zurück und bildet mit Fahrzeugen eine Absperrung auf der Straße. Die Unterkunft ist nun nur noch aus einer Richtung zu erreichen und der Fahrzeugverkehr auf der Bundesstraße ist eingestellt. Die Zufahrt aus der anderen Richtung zum Baumarktparkplatz wird durch eine Gruppe von ein paar Dutzend als Verstärkung eingetroffenen Beamten freigehalten. Immer wieder gibt es auch hier Versuche, auf die Straße durchzubrechen und so die Einfahrt zur geplanten Unterkunft endgültig dicht zu machen.

Eine Stunde vor Mitternacht eskaliert die Situation schließlich und ein entschlossener Mob attackiert die Polizei mit Flaschen, Böllern und anderer Pyrotechnik. Die Bauzäune werden auf die Straße gezerrt und einige versuchen, Barrikaden zu errichten.Die unterbesetzte Polizei bekommt die Situation lange Zeit nicht unter Kontrolle. Lichtraketen werden von Beamten gezündet, welche den Parkplatz ausleuchten sollen. Dadurch wird die Menge sichtbar, die immer noch mehrere hundert Menschen umfasst. „Deutschland den Deutschen! Ausländer raus“ schallt es aus den Kehlen des Mobs. Die Polizei ist überfordert und versucht die Menge aufzulösen. Schließlich weiß sie sich nicht weiter zu helfen und beginnt damit, massiv Tränengas einzusetzen. Das gesamte Areal versinkt im weißen beißenden Nebel. Alle Anwesenden – Rassisten, Gegendemonstranten, DRK-Helfer, Journalisten und letztlich auch die Beamten kämpfen mit der Wirkung des Tränengases. Offenbar das Letzte und einzige Mittel, um die Ausschreitungen des rassistischen Mobs unter Kontrolle zu bekommen.

Der Grund für die Situation ist eine völlige Fehleinschätzung der Situation in Heidenau. Bereits seit Tagen marschieren „besorgte Bürgerinnen und Bürger“ durch die Stadt, darunter auch immer wieder zahlreiche organisierte Nazis. Die NPD hatte immer wieder zu den rassistischen Protesten aufgerufen, dazu zahlreiche Facebookgruppen. Innenminister Markus Ulbig war nach Berichten des Tagesspiegels noch am des Gewaltausbruchs in Heidenau, um mit Bürgermeister und Landtagsabgeordneten über über die geplante Asylunterkunft zu sprechen. Mögliche Ausschreitungen und Gefahren von Seiten der rassistischen Proteste waren dabei scheinbar kein Thema. Das tief in der Nacht letztlich noch ein Bus mit Geflüchteten in Heidenau eingetroffen ist, wirkt wie der verzweifelte Versuch, den Skandal zu schmälern. An diesem Abend sahen viele ein neues Lichtenhagen kommen. Nein, zu Pogromen ist es nicht gekommen, aber die Stufe der Eskalation hat an diesem 21. August einen weiteren Schritt in diese Richtung gemacht.


Veröffentlicht am 27. August 2015 um 10:59 Uhr von Redaktion in Nazis

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