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Hellerau und die völkischen Schattenseiten der Lebensreform

26. April 2021 - 14:09 Uhr - Eine Ergänzung

von Lucius Teidelbaum

Der Stadtteil Hellerau im Norden von Dresden war ein wichtiger Ort der so genannten Lebensreformbewegung. Heute ist die ehemals eigenständige Gartenstadt ein schmucker Stadtteil Dresdens, der sich auf diese Geschichte gern bezieht bzw. an sie anzuknüpfen versucht. Die völkischen Schattenseiten der Lebensreform-Siedlung in Hellerau werden allerdings seltener erwähnt. ‚Lebensreform‘ ist ein Sammelbegriff für soziale Reformbewegungen, die es seit dem 19. Jahrhundert in Deutschland existierten. 

Bestandteile waren Vegetarismus, Naturheilkunde, Naturspiritualität, Selbstversorgung, die Landkommune-/Gartensiedlungs-Bewegung, Gemeinschaftseigentum, „Rassenhygiene„, Impfgegnertum, Abstinenz– und Antinikotinbewegung, Frisch- und Rohkostbestrebungen, die (Frei-)Körperkulturbewegung, Welteislehre, Theosophie, Anthroposophie, Ausdruckstanz, Tierversuchs– und Schächtgegnertum, die antisemitische Zinskritik von Silvio Gesell (1862-1930) und die Wandervogel-Bewegung.

Ausgangsmotiv war eine ablehnende Reaktion auf die entstandene Industrie- und Massen-Gesellschaft. Die Großstadt wurde oft als Ganzes abgelehnt. Man wandte sich gegen die Unterdrückung der angeblichen Natürlichkeit des Menschen und wollte ‚Zurück zur Natur‘. Im Gegensatz zu einer linken Gesellschaftskritik, die auf Strukturen und Wirtschaft abzielt, wollte die Lebensreform vor allem das Ich über Reformen des Lebens verbessern. 

Die 1909 gegründete Gartenstadt Hellerau ging auf eine Initiative des Möbelfrabikanten Karl Schmidt-Hellerau zurück. Dieser wollte Arbeit, Kultur und Wohnen miteinander verbinden. Neben den „Deutschen Werkstätten Hellerau“ entstand eine Wohnsiedlung für die Arbeiter:innen und 1912 das berühmte „Hellerauer Festspielhaus„, ein Zentrum für den modernen Ausdruckstanz. Daneben entstand auch eine reformpädagogisch orientierte Schule nach dem Konzept von Alexander Neill, die mit der damaligen autoritären Pädagogik zu brechen versuchte.

Höhepunkte der Reform-Projekte Helleraus waren vor dem Ersten Weltkrieg und in der Weimarer Republik. Mit dem Machtübergabe an den Nationalsozialismus war das durch die Wirtschaftskrise angeschlagene Projekt beendet. Heute ist ganz Hellerau ein Flächendenkmal und der Verein Bürgerschaft Hellerau bemüht sich um die Aufnahme von Hellerau in die UNESCO-Welterbe-Liste. Der Schriftsteller Durs Grünbein nannte Hellerau im Rückblick ein „mißglücktes sächsisches Utopia“.

Der völkische Multifunktionär Bruno Tanzmann

Seit 1910 lebten Bruno Tanzmann (1878- 1939)1 mit seinem Bruder Edwin in Hellerau. Beide vertraten völkisch-nationalistische und zugleich lebensreformerische Ideen. Sie betrieben seit 1910 eine Buchhandlung mit angeschlossener Wanderschriften-Zentrale für entsprechende Publikationen.  Nach 1918 zog Bruno Tanzmann in den Heideweg und gründete 1919 mit Edwin den Hakenkreuz-Verlag, dem Eigenverständnis nach ein „Geistesbollwerk für kulturvölkische Ziele“. Schon damals fungierte das Hakenkreuz in Deutschland als ein Symbol der völkischen Bewegung. Neben völkischer Literatur erschienen in dem Verlag der Wochenabrisskalender „Hakenkreuz-Jahrweiser“, ein „Hakenkreuz-Buchwart“ und die Reihe „Blätter vom Hakenkreuz“. Der Verlag ging 1929 in Konkurs.

Im Jahr 1920 begründete Bruno Tanzmann die so genannte „Deutsche Bauernhochschule“ (DBHS). Es handelte sich dabei um eine Organisation, die Beschäftigte in der Landwirtschaft ideologisch formen sollte. In der völkischen „Blut- und Boden“-Romantik gelten Bauern und Bäuerinnen als die „wahren“ Träger:innen des „Deutschtums“. Die Großstadt dagegen wird im Gegensatz dazu oft eher als „unnatürlich“ und „jüdisch“ markiert. Zu den Statuten DBHS gehörte entsprechend ein antisemitischer „Arierparagraph“. Im Rahmen dieser DBHS organisierte Bruno Tanzmann im März 1921 den „Ersten Germanischen Bauernhochschultag“ im bekannten Festspielhaus von Hellerau.

Später fanden hier weitere Lehrgänge statt und ab Anfang 1926 war die „Bauernhochschule“ im Westflügel des Festspielhauses untergebracht. Der Trägerverein wuchs stetig. Er hatte 1922 219 und 1928 1.000 Mitglieder. Er gab auch eine Zeitschrift mit dem gleichen Titel heraus, die im Hakenkreuz-Verlag erschien. Als Symbol verwendete auch die „Deutsche Bauernhochschule“ das Hakenkreuz. Dazu kam der Spruch: „Die deutsche Bauernhochschule ist die Pflanzstätte für Deutschlands Blüte“.

Im Jahr 1923 war Tanzmann zusammen mit Wilhelm Kotzde-Kottenrodt, dem Bundesführer der Gruppe „Adler und Falken“, Mitbegründer der Artamanen-Bewegung. Stefan Brauchmann beschreibt die Artamanen als „ein Sammelbecken verschiedener völkischer und nationalistischer Strömungen“. Die Artamanen versuchten im Rahmen eines freiwilligen Arbeitsdienstes als billige Arbeitskräfte auf Gütern in Sachsen und Thüringen polnischen Wanderarbeiter:innen Konkurrenz zu machen und betrieben kleinere Siedlungsprojekte. Dahinter steckte die Angst vor einer dauerhaften Ansiedlung von Pol:innen. 

Gründungsort und erster Einsatzort war das Rittergut Limbach, heute ein Ortsteil von Wilsdruff. In Mecklenburg-Vorpommern existiert eine Gruppe völkischer Siedler:innen, die sich in der Tradition dieser Artamanen sieht. In Hellerau befand sich ab 1924 der Standort des Arbeitsamtes der Artamanen. Er war in einem Flügel des Festspielhaus eingemietet. Im Jahr 1926 trat Tanzmann von der Führung der Artamanen wieder zurück und 1928 aus dem Artam-Verein aus.

Tanzmanns Haus in Hellerau war in den 1920er Jahren einen wichtiger Knotenpunkt im Netzwerk der völkischen Bewegung. Dieser entstammte auch die NSDAP, die sich gegenüber anderen Konkurrenz-Organisationen schließlich durchsetzte. Bruno Tanzmann bereitete dem Nationalsozialismus den Weg, konnte aber von dessen Sieg nicht wirklich profitieren. Seine ab 1933 herausgegebenen Zeitung „Weltwacht der Deutschen. Sonntagszeitung für das Deutschtum der Erde“ scheiterte. Tanzmann erhielt zwar 1935 als „völkischer Vorkämpfer“ von Adolf Hitler einen einmaligen Ehrensold von 1.000 Reichsmark, trotzdem trieben Tanzmann seine finanziellen Miseren schließlich 1939 in den Suizid.

Neben den Brüdern Tanzmann waren weitere völkische ProtagonistInnen in Hellerau aktiv. Eine Publikation nennt die Namen Ernst Krauss (1872-1948, „Georg Stammler„), Emil Strauß, Ferdinand Gottlieb Fasshauer, Hermann Heide und Kurt Gerlach. Nur wenig ist bekannt über den 1927 in Hellerau gegründeten „Bund Kinderland“, der offenbar ein Vorläufer des SS-Lebensborns war.

Die Wiederkehr des Altverdrängten: Querdenken als Lebensreform 2.0? 

Die Geschichte von Hellerau als wichtiger Ort der Lebensreformbewegung ist eine eigentümliche Mischung linker, fortschrittlicher, sowie reaktionärer und völkischer Ideen. Letztere verkörpert u.a. durch die Person von Bruno Tanzmann. In seinem Buch „Die Jahre im Zoo“ schreibt der Autor Durs Grünbein, dass es unter den Lebensreformern dieser Gartenstadt auch einige völkische Bewegte gab: „Es krochen die Rasse-Ideologen aus ihren Löchern, die Germanomanen und die Antisemiten, es sprangen die Wurzelbeschwörer und die Blut-und-Boden-Zauberer über die Heide.“ (Seite 137)

Dieses seltsame Neben- und Miteinander begegnet uns in diesen Tagen in Form der Querdenken-Demos wieder. Auch den Teilnehmenden an den Demonstrationen von Querdenken und Co., die nicht der extremen Rechten zuzurechnen sind, geht es weniger um eine Gesellschafts- oder gar Wirtschaftskritik. Mit der kapitalistischen Moderne bzw. Postmoderne unzufriedene Bürger:innen wenden sich diversen Schein-Alternativen zu. Die vielen Esoteriker:innen arbeiten mit Meditation und Alternativmedizin eher am eigenen Ich als an der Gesellschaft. 

Die Grenze verläuft zwischen denen, die glauben den Weltfrieden oder höhere Bewusstseinsstufen herbeimeditieren zu können und denen, die nur Stress abbauen wollen. Auch hier findet sich oft die altbekannte Großstadtmüdigkeit der ersten Lebensreform-Bewegung wieder. Unter Esoteriker*innen finden Siedlungs-Projekte wie die Anastasia-Familiensiedlungen deutlichen Zuspruch. Diese haben erneut einen deutlich völkischen Einschlag.  So stellt sich die Frage, ob wir in diesen Tagen nicht die Geburt einer neuen Lebensreform-Bewegung beobachten können?

Quelle:

1. Walter Schmitz u. Clemens Vollnhals (Hgg): Völkische Bewegung – Konservative Revolution – Nationalsozialismus. Aspekte einer politisierten Kultur, Dresden 2005, Seite 255-280         


Veröffentlicht am 26. April 2021 um 14:09 Uhr von Redaktion in Nazis

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