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Ode an die deutsche Ignoranz und Austeritätspolitik – Ein Kommentar

29. März 2020 - 19:29 Uhr

Hunderte Musiker:innen haben vergangenen Sonntag unter dem #musikerfürdeutschland im Internet und auf deutschen Balkonen die Europahymne musiziert. Angelehnt an die viral gegangenen Videos aus Italien, in denen viele Menschen gemeinsam mit ihren Nachbar:innen Lieder singen, musizieren und so dem physical distancing ein soziales Moment entgegensetzten, rief Deutschland am Sonntagabend 18 Uhr zur gemeinsamen Europahymne auf. In Zeiten der Corona-Pandemie, Kontaktsperre und Ausgangsbeschränkung, sollte damit in Deutschland ein Versuch gestartet werden, Solidarität auszudrücken. Doch mit wem eigentlich? In erster Linie mit sich selbst.

Während flächendeckend EU-Mitgliedsstaaten ihre Binnengrenzen schließen und alle Staaten in erster Linie um ihr eigenes Nationalwohl besorgt sind – bei dem es sogar legitim erscheint medizinische Hilfsgüter  für andere EU-Staaten zu beschlagnahmen oder sich gegenseitig medizinisches-/ Pflegepersonal abzuwerben – liegt der kleinste gemeinsame Nenner vom Friedensnobelpreisträger EU, dieser viel beschworenen Europäischen Werteunion, in der militärischen Abschottung gegenüber tausenden Menschen an den EU-Außengrenzen und dem Einpferchen von Schutzbedürftigen auf den griechischen Inseln.

Während die deutsche Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen (CDU) im Militärhelikopter über Griechenland 700 Millionen Euro Soforthilfe für die fast völlige Abschottung an der EU-Türkei-Grenze sowie die militärische Aufrüstung des Grenzschutzes locker machte, liefert die humanitäre Katastrophe auf der griechischen Insel Lesbos, bei der tausende Geflüchtete in Lagern unter menschenunwürdigen Bedingungen sich selbst überlassen werden, die dazu passenden Bilder der Abschottung nach Innen und Außen. 

Eine mit der Situation überforderte und in Teilen offen rassistische Inselbevölkerung und tausende Menschen im Lager Moria müssen herhalten für die Erzählung: Europa muss sich Abschotten. Europa kann nicht mehr Geflüchtete aufnehmen. Europa habe keinen Platz mehr. Einen erneuten Sommer der Migration wie 2015 könne sich Europa nicht mehr leisten. Statt humanitärer Hilfe und der in diesen Tagen überall propagierten Solidarität regiert in der Europäischen Union eher deutsche Überheblichkeit. Statt das Lager zu evakuieren und die Geflüchteten aufzunehmen, schickt Deutschland Grenzschützer und Ausrüstung nach Griechenland. Anstatt 20 Uhr über die humanitäre Katastrophe auf Lesbos zu berichten, ruft die Tagesschau 18 Uhr zum musizieren der Europahymne auf.

Ausgerechnet Deutschland, dass den Ländern im Süden Europas nach der Finanzkrise 2007/8 eine Austeritätspolitik und die Troika aufgezwungen und damit für einen drastischen Abbau der Sozial- und Gesundheitssysteme in diesen Ländern gesorgt hat, musiziert „europäische Solidarität“ herbei. In der Corona-Krise kollabieren nun die auf deutschen Befehl zusammengekürzten Gesundheitssysteme dieser Länder und tausende Menschen sterben. Folgerichtig, äußerte man Skepsis gegenüber einem unbürokratischen europäischen Corona-Rettungsschirm, welcher insbesondere den von der Corona-Pandemie aktuell stark betroffenen Staaten Italien und Spanien helfen würde. Seit Jahren blockiert Deutschland die Einführung gemeinsamer europäischer Staatsanleihen. Wieder einmal sperrt sich die deutsche Politik damit, Verantwortung für die kaputtgesparten Staaten im Süden zu übernehmen.

Auf der einen Seite wird dem autoritär agierenden türkischen Präsidenten Erdoğan in deutschen Leitmedien vorgeworfen, Geflüchtete als Drohkulisse zu missbrauchen, als ginge es der deutschen und europäischen Politik um die menschlichen Schicksale. Mit dem EU-Türkei Deal wurde das Leiden und Sterben an den Grenzen einfach in die Türkei und an ihre Grenzen verschoben. Gerechtfertigt wurde diese Maßnahme mit dem Argument, sich Zeit zu erkaufen. Doch was hat die EU geschafft? Nichts. Auf der anderen Seite sonnt sich Deutschland noch immer in seiner moralischen Überlegenheit, im Sommer der Migration 2015 für einen kurzen Augenblick ein menschliches Gesicht gezeigt zu haben. Von diesem Moment zehrt Deutschland nun und er soll alle Asylrechtsverschärfungen, die rechten Terroranschläge in Halle, Hanau sowie den NSU und rechte Netzwerke im Staatsapparat vergessen machen.

Die Aufnahmebereitschaft Deutschlands damals dient als moralischer Zeigefinger gegenüber den europäischen Nachbarländern. Dabei ist sich Deutschland bis in Teile der Linken einig, dieses menschliche Gesicht im Jahr 2015 dürfe sich nicht wiederholen. Stattdessen ist es wieder an der Zeit, das schmutzige Spiel mit Geflüchteten den Staaten an den EU-Außengrenzen zu überlassen und nebenbei den seit Jahren laufenden Spar- und Austeritätskurs zu überwachen. Während einige EU-Mitgliedsstaaten die Corona-Krise nutzen, letzte demokratische Strukturen abzuschaffen und über die letzten Jahre kontinuierlich daran arbeiten die Gewaltenteilung und Pressefreiheit in ihrem Land abzubauen, gilt nicht einmal im Moment der humanitären Katastrophe Gnade bezüglich dem Sparkurs und möglichen Neuverschuldungen in den Ländern im Süden Europas.

In dieser Situation in Deutschland BeethovensOde an die Freude“ zu intonieren, ist im besten Fall naiv, ignorant und überheblich. Es wäre augenscheinlich ehrlicher, die deutsche Nationalhymne oder einen deutschen Schlager unter #musikerfuerdeutschland zu musizieren. Der Situation sehr viel angemessener wäre vielleicht das Abspielen des ein oderen anderen Klassikers der Deutschpunkband Slime. Vielleicht ist es aber jetzt auch Zeit für einen echten solidarischen Sturm der Entrüstung über die Rolle Deutschlands in der EU und der nationalistischen Politik der meisten EU-Mitgliedsstaaten, den mit ihren Träumen und Hoffnungen allein gelassenen Menschen in Moria und den von Corona-Virus gebeutelten Ländern wäre es zu wünschen.

Bild: https://twitter.com/DanielaKayB/status/1241772955857805317/photo/1


Veröffentlicht am 29. März 2020 um 19:29 Uhr von Redaktion in International, Soziales

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