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Juristische Aufarbeitung des 19. Februars 2011 dauert an

8. Januar 2014 - 02:23 Uhr - 7 Ergänzungen

Bereits Ende Oktober beantwortete Sachsens Justizminister Jürgen Martens (FDP) eine kleine Anfrage des Grünen-Landtagsabgeordneten Johannes Lichdi zum Stand der strafrechtlichen Aufarbeitung anlässlich der Ereignisse rund um den 19. Februar 2011. Vor fast drei Jahren hatten mehrere tausend Menschen mit Sitzblockaden zwei Aufmärsche von Nazis durch den Süden der Stadt verhindert. Während etwa 200 Nazis unbehelligt von der Polizei ein alternatives Wohnprojekt in Dresden-Löbtau mit Flaschen und Steinen angreifen konnten, versuchten die eingesetzten Beamtinnen und Beamten tausende Menschen daran zu hindern, sich den rund 2.500 angereisten Nazis entgegenzustellen.

Aktuell sind immer noch einige Verfahren gegen mehrere Beschuldigte offen. Neben dem im Juli 2013 ausgesetzten Prozess gegen den Jenaer Stadtjugendpfarrer Lother König und dem Berliner Antifaschisten Tim H., wurde in diesen Tagen durch die Stuttgarter Staatsanwaltschaft Anklage wegen versuchten Totschlags gegen einen inzwischen 23jährigen Mann erhoben. Ihm wird unter anderem vorgeworfen, in der Nähe des Hauptbahnhofes zwei Polizisten mit Leuchtmunition beschossen und dabei einen Beamten verletzt zu haben. Im Anschluss an die erfolgreichen Massenblockaden hatte die Dresdner Staatsanwaltschaft damit begonnen, mit einer umfassenden Funkzellenabfrage (FZA) die Bestandsdaten von mehreren zehntausend Menschen in der Südvorstadt zu sammeln, um damit nicht zuletzt auch vom polizeilichen und politischen Versagen in der sächsischen Landeshauptstadt abzulenken.

Aus der Antwort der Staatsregierung geht im Prinzip nur hervor, dass in Zusammenhang mit den Ereignissen vom 19. Februar insgesamt 1.400 Ermittlungsverfahren eröffnet worden sind. Bei der dazu erfolgten elektronischen Auswertung aller abgeschlossenen Verfahren durch das zuständige Staatsministerium konnten aus Zeitgründen allerdings nur „rechtskräftige Verurteilungen“ erfasst werden. Obwohl Verfahren, bei denen wie im Fall von Tim H. in der ersten Instanz Rechtsmittel eingelegt worden sind, von der Statistik nicht erfasst sein sollen, lassen sie sich in der unstrukturiert wirkenden Tabelle wiederfinden. Aus der 16-seitigen Übersicht wird deutlich, dass es in einem Großteil der beendeten Verfahren um Verstöße gegen §21 des Versammlungsgesetzes geht. Eine große Zahl dieser Verfahren endete bislang mit der Zahlung einer nicht näher genannten Geldstrafe durch die Beschuldigten. In einer Vielzahl von Fällen waren die zum großen Teil im März 2011 eingeleiteten Verfahren wegen „Störung von nichtverbotenen Versammlungen oder Aufzügen“ auf Grund von Geringfügigkeit (§153 StPO) eingestellt worden. Zu etlichen Einstellungen kam es auch dann, wenn eine Täterschaft nicht zweifelsfrei (§170 StPO) nachgewiesen oder sogar ausgeschlossen werden konnte. In den wenigen abgeschlossenen Verfahren wegen gefährlicher Körperverletzung und besonders schwerem Landfriedensbruch überwiegen in den bisher gefällten Urteilen Geldstrafen und Einstellungen. Die Tabelle weist lediglich drei Beispiele für Personen auf, die bis Herbst 2013 wegen Körperverletzungsdelikten zu Bewährungs- und mit Tim H. eine Person in erster Instanz zu einer Freiheitsstrafe verurteilt. Wenngleich im Zuge der Auseinandersetzungen mehr als 150 Personen zum Teil schwer verletzt wurden, sind die wenigen Verfahren wegen Körperverletzung bzw. Strafvereitelung im Amt sowie unterlassene Hilfeleistung mittlerweile allesamt eingestellt worden.

Ob bei der Beweisführung vor Gericht letztlich die aus der „digitalen Rasterfahndung“ gewonnenen personenbezogenen Daten eine Rolle gespielt haben, bleibt zumindest fraglich. Fakt ist, dass zu Beginn diese Daten unter anderem für Ermittlungen wegen Verstößen gegen das Versammlungsgesetz verwendet worden sind und damit zumindest Zweifel an der offiziellen Behauptung der Staatsanwaltschaft aufkommen lassen, dass damit in erster Linie eine kleine Gruppe linker Gewalttäter gefunden werden sollte. Die juristische Auseinandersetzung über die Rechtmäßigkeit der Maßnahme endete im vergangenen Jahr mit einem Paukenschlag. So erklärte das Dresdner Landgericht die flächendeckende „nichtindividualisierte Funkzellenabfrage“ im April 2013 aus Formalgründen für rechtswidrig. Im Anschluss an das Urteil hatten Politiker der Linken das Ermittlungsinstrument der Funkzellenabfrage zu Recht für dessen „Einschüchterungseffekt“ bei all jenen kritisiert, die am 19. Februar ihr Grundrecht auf Versammlungsfreiheit wahrgenommen und gegen Nazis protestiert hatten. Wie sehr das Instrument in aktuellen Ermittlungen dennoch angewendet wird, zeigt das Beispiel vom vergangenen Jahr. Unmittelbar nach den ebenfalls erfolgreich verlaufenden Protesten vom 13. Februar 2013 war von der Staatsanwaltschaft nach einem Übergriff auf zwei Zivilbeamte der Polizei erneut eine nichtindividualisierte Funkzellenabfrage für den Bereich das Lennéplatzes angeordnet worden. Aus diesem Grund machen auch die vor gut einem Monat im Sächsischen Landtag verabschiedeten weitreichenden Gesetzesverschärfungen einen Sinn. Die darin unter anderem beschlossene Vereinfachung der Bestandsdatenauskunft ermöglicht Ermittlungsbehörden in Zukunft einen noch sehr viel leichteren Zugriff auf von Telekommunikationsunternehmen gespeicherte personenbezogene Daten.

Zum Ermittlungsverfahren wegen der Bildung einer kriminellen Vereinigung gab es auf Nachfrage von Lichdi indes keine neuen Erkenntnisse. Während die Ermittlungen gegen 21 Beschuldigte aus dem in den Abendstunden des 19. Februars durchsuchten Haus der Begegnung in Pieschen schon im Juli 2012 von der Dresdner Staatsanwaltschaft nach §170 der Strafprozessordnung (StPO) eingestellt worden waren, wurde ein zweites abgetrenntes Ermittlungsverfahren gegen eine weitere Person inzwischen offenbar ebenfalls eingestellt. Begründet wurde die Einstellung mit §154 der StPO, wonach die Ermittlungsbehörde auf eine Strafverfolgung verzichten kann, wenn das zu erwartende Strafmaß in Hinblick auf die Verurteilung wegen einer anderen Tat „nicht beträchtlich ins Gewicht fällt“. Den verbliebenen Personen wird vorgeworfen, von 2009 bis 2010 mehrere Überfälle auf „politisch Andersdenkende“ verübt zu haben. Dazu waren im April 2011 die Wohnungen von insgesamt 17 Personen durchsucht worden, im Jahr darauf hatte das Sächsische Landeskriminalamt (LKA) erneut Wohnungen von weiteren Verdächtigen zur Sicherung von Beweismitteln durchsuchen lassen. Nach dem 19. Februar hatte die Dresdner Staatsanwaltschaft das Verfahren gegen zwischenzeitlich 45 Beschuldigte zum Anlass genommen, um damit einen großen Teil der über zwei Tage andauernden Auswertung von Telekommunikationsverbindungsdaten zu rechtfertigen, die mögliche Tatverdächtige identifizieren sollte. Zu einer Anklage haben die seit mehreren Jahren andauernden Ermittlungen bis heute jedoch nicht geführt.

Weiterer Artikel: Kleines Nachspiel zum Dresdner Handygate von 2011: 1.400 Verfahren – und fast alle eingestellt


Veröffentlicht am 8. Januar 2014 um 02:23 Uhr von Redaktion in Antifa, Freiräume

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